Martin Amanshauser

Wo Rialto brüchig wird

Was Sie noch nicht über die Lagunenstadt wussten: Das Venedig abseits von Werbung und Wahnsinn – Tipps für Mutige und Fans der außergewöhnlichen Ecken.

Wie hat die Stadtverwaltung das geschafft? Der typische Geruch von Venedig ist fort. Das Vermoderte, Morbide, das wie ein romantisch-übler Hauch über den Kanälen lag, ist verschwunden. Das Wasser in der Lagune scheint frisch und sauber zu sein, und abendliche Ratten sind keine mehr zu sehen. Haben sie das Schiff verlassen?

Das Schiff ist hochprofitabel. Die Top-Werbefläche Serenissima führt uns gegenwärtig ein Lehrstück über die Machtverhältnisse zwischen Kultur und Sponsoring vor. Nehmen wir die Ponte di Sospiri, Seufzerbrücke, über die einst die zum Tode Verurteilten (seufzend, falls die Überlieferung stimmt) ihrem Ende entgegenwankten. Die Palazzi an ihren Seiten werden seit Jahren renoviert, Konzerne gestalten die Fläche. Abgesehen von der eigentlichen Brücke, die wie ein grauer Zahn aus einem bunten Maul herausblitzt, ist alles Steinerne von bedruckten Planen überdeckt. Der Werbeträger wechselt regelmäßig, zur Zeit gehört die Seufzerbrücke L´Oréal.

Das erste Ghetto. Vor gut zwanzig Jahren bestand Venedig für die Massen aus einer einzigen Meile, dem gelb beschilderten Fußweg vom Bahnhof über Rialto nach San Marco – vielleicht mit einem Krakenarm zur Frari-Kirche. Doch dann stieg die Besucheranzahl noch einmal massiv. Den Leuten wurde es in den getreidegassenähnlichen Hauptschlagadern einfach zu eng. Der erste „neue“ Stadtteil, in den sich in den Neunziger Jahren neue Besucherströme Luft verschafften, war das Ghetto in Cannaregio, Namensgeberin aller jüdischen Ghettos. Die Nachkommen der NS-Opfer bewirtschaften heute die Gegend um den Campo de Gheto Novo wieder, zwei Synagogen sind in Betrieb. Das berühmte Gam Gam bietet Koscheres Essem zwischen Pizza und Pita – und das einzigartige Dolce Abraica.

Wo in anderen Städten Prachtalleen oder Gürtelwalle die Grenzen der Bezirke schreiben, sind es in Venedig Wasserstraßen. Das erste Vaporetto, die „Regina Margherita”, fuhr 1881 durch den Canal Grande – betrieben von einer französischen Transportfirma. Die Idee setzte sich durch. Die Vaporetti, heute Dieselschiffe von 24 Metern Länge und vier Meter Breite für immerhin je zweihundert Passagiere, zeichnen ein dichtes Netz von Wasserlinien um die Laguneninseln. Die Anlegestellen („Pontile del servizio pubblico“ lautet die offizielle Bezeichnung dieser Mischform zwischen Boot und Brücke) sind bewegliche Floße, vertaut mit dem Festland. Bei Beschädigungen werden sie in die Vaporetto-Stationen-Werft beim Arsenal gezogen.

Stadtsechstel. Stilfreaks lassen niemals die berühmteste Bar Italiens aus: Harry´s Bar, wo in den Fünfzigern Orson Welles und Truman Capote tranken, wo Hemingway lebte, und deren Besitzer überzeugt sind, die Bar habe Hemingway groß gemacht und nicht umgekehrt. Hier, nicht weit von San Marco, wurde der Prosecco-Cocktail Bellini erfunden. Wem das Echo des Jet-Sets eines vergangenen und die quicklebendigen US-Touristen des jetzigen Jahrhunderts nichts bedeuten, wagt sich vielleicht in eine der anonymen „Bàcari“, kleine Stehbars mit Vitrinen voller „Cichetti“, den venezianischen Tapas: Meeresfrüchtespieße, Stockfisch in Polenta, Fleischbällchen und massenhaft gut gefüllte Brötchen.

Offiziell existieren keine Stadtviertel, sondern „Stadtsechstel“: Sestieri. Zu Canareggio, Castello, Dorsoduro, San Polo, Santa Croce und San Marco kommt noch die Insel Giudecca (administrativ bei Dorsoduro), deren Fondamente sich der Serenissima zuwenden, selbstbewusst, als würde hinter ihnen eine zweite Prunkstadt liegen. Die isolierte, etwas ungeschäftige Giudecca verfügt über keine Harry´s Bar, aber durchaus über Kuriositäten, so etwa ihre „Sacca Fisola“ genannte Westinsel, eine künstliche Aufschüttung. Knapp 1.500 Einwohner leben in diesem exzessiv ruhigen Gemeindebau-Venedig aus den Siebziger Jahren. Kleine Parks, große Spielplätze, jede Menge Ruhe. Eine Post, eine Apotheke, ein Carabinieri-Posten. Im Zentrum des Inselchens steht die kahle San Gerardo Segredo. Eine wacklige Brücke führt auf Sacca San Biagio, die Müllanlageninsel.

Richtung Giudecca ragt jedoch eines der außergewöhnlichen Bauwerke Venedigs in die Höhe, die dunkelrote Fabrik „Molino Stucky“. Ein solches Speicherhaus würde man eher in Kiel als in Venedig erwarten. Die einst größte Mehlmühle Italiens, die auch Teigwaren produzierte, stellte ihren Betrieb 1955 ein und verfiel. Knapp vor der Neueinweihung als Hotel kam es 2003 zum berühmten, ungeklärten Molino-Stucky-Großbrand – heute wird es von Hilton genutzt, 380 Betten, Blick auf Zattere.

Es wackelt und knirscht. Rialto-Brücke 2011: Eine Säule der Steinbalustrade des 420 Jahre alten Symbols war in sich zusammengebrochen, Risse waren entstanden. Früher lockerte in solchen Fällen ein Sondergesetz die Gelder aus Rom, doch die Regierung spart jetzt eisern. Egal: Nichtstaatliche Investoren stehen Schlange, der italienische Modekonzern Diesel sprang beim Rialtoproblem ein und übernahm die Kosten der Reparatur. Kein Einzelfall: Prada, Bulgari oder Louis Vuitton investieren, wo der italienische Staat sein Kulturerbe nicht mehr finanzieren kann oder will.

Auch wenn es den Multis nun permanent dankbar sein muss, Venedig war nie Berlusconi-Land. Gegenwärtig bereitet Bürgermeister Giorgio Orsoni die Kandidatur zur Europäischen Kulturhauptstadt 2019 vor – der schillernde Mann der venezianischen Politik ist aber weiterhin der Philosoph Massimo Cacciari. Nicht nur, weil Berlusconi ihm einst paranoiderweise eine Affäre mit seiner (Berlusconis) Gattin vorwarf. Als Bürgermeister regierte er 1993-2000 und nach einer um wenige Stimmen gewonnenen Wahl 2005-2010 ein zweites Mal. Der Ex-Kommunist gilt immer noch als bärtiger Held der im Grunde tief kapitalistischen Revolution, die es möglich macht, dass die Lagunenstadt täglich 60.000 Besucher schlucken und wieder ausspucken kann, ohne zu kollabieren: Taubenfutterverbot am Markusplatz, konsequente Ausbaggerung der Kanäle, Vorrang für ökologische Themen. Mag sein, dass es wegen Massimo Cacciari nicht mehr stinkt.

Vom Spritz Bitter bis Bangladesh. Wie durch ein Wunder erschließen sich neugierigeren Passanten auch unweit der Baudenkmäler die authentischsten Ecken. Nein für alte Schneider oder Schuster, und für Schlüsseldienste, muss man nach Mestre. Was vom alten Venedig übrig ist, spielt sich ausschließlich am kulinarischen Sektor ab. Eine vielversprechende Ecke liegt gleich bei Rialto – an der dunkelsten Stelle der Calle della Madonna verbirgt sich die Ostaria Al Diavolo E L´Acquasanta, deren Speisekarte sich zweiteilt in touristisch und original venezianisch. Beim Teufel und dem Weihwasser isst man unglaubliche Sarde in Saor, die legendären marinierten Sardinen, mit Mehl bestäubt, leicht angebraten, in Essig und Zwiebeln eingelegt – oder Bigoli in Salsa, eine lokale (dicke) Nudel-Variante mit Zwiebel-Anchovis-Sauce, oder Tagliolini mit Meeresfrüchten, oder Kuttelsuppe oder einfach die klassische Fritto Misto mit Polenta.

Hat jemand behauptet, Venedig sei abgelutscht, ausgespuckt und den Touristen zum Fraß vorgeworfen? Das Gegenteil ist der Fall. Das Echte lauert immer nur wenige Gassen hinter der gigantischen Masse aus kurzen Hosen, Sonnencremegesichtern und Digitalkameras, die auf ihre ziellose Weise jeden Zentimeter zwischen dem Bahnhof Santa Lucia und dem Markusplatz kartographiert. Aber sogar dort dazwischen findet man Orte wie das nur an der Oberfläche touristisierte Cavatappi. Natürlich ist die Bedienung hektisch und der Platz knapp, doch das Italo-Horrorgericht Lasagne schmeckt! Und die Vitrinen sind voll der idealsten Cicchetti. Dazu trinken die übrig gebliebenen Venezianer das Glas „Ombra“, euphemistisch für den Weißwein: nur ein kleiner Sprung in den Schatten der Bar.

Wo bleibt man alleine? Natürlich wurden die Guidebooks in den Nuller Jahren allmählich detaillierter, Mutige wagten sich ein paar Schritte in die verwinkelten Gassen hinein, von denen einige direkt an Kanälen enden, ohne Brücke, auch ohne Geländer. Doch Venedig ist groß, aufgrund des Fußwegmonopols sogar riesengroß. Besonders in den Randvierteln, Randsechsteln, ohne Souvenirshops, ohne touristisch Verwertbares, atmet die Lagunenstadt.

Nehmen wir in Dorsoduro den weitläufigen Campo Santa Margherita. An seinem südlichen Ende sitzen Einheimische im orangefarbigen Lokal „Orange“, trinken Spritz Bitter und essen Menüs, die günstiger sind als ein Cappuccino am Markusplatz. Es sähe aus wie in einer quirligen italienischen Kleinstadt, würden nicht die Autos fehlen.

Nehmen wir die Via Giuseppe Garibaldi, nicht weit vom Zentrum und doch fast nur bei der Biennale-Crowd bekannt (Trattoria Giorgione). Die Garibaldi ist imperialer als jede andere Straße Venedigs, breiter als die Trippelwege für Tagesausflügler und Kreuzfahrtsleute – doch umso verwinkelter die von ihr abzweigenden Gässchen. An ungeraden Jahren kann man hier Rückzugsorte wie den total unerwarteten Bangladesh-Pavillon finden. Oder, ganz am anderen Ende, hinter dem Künstlergebiet, die beschauliche Insel San Pietro, wo nur die Wäsche zwischen den Fenstern auf menschliches Leben hinweist und ein paar struppige Katzen durch die roten Gassen schleichen.